Kinder-Reha Tag 7 – Montagsblues oder wie der Apfel durch das Fenster flog
Die erste Woche von gut vier ist fast geschafft und zehrt wohl bisher am meisten an den Nerven von uns Dreien. Der Montag startet erneut mit dem viel zu frühen 6-Uhr-Frühstück und einer entsprechend mies gelaunten 4-Jährigen. Alles ist doof, alles ist zu früh, alles zu dunkel. Könnte sie sprechen, würde sie mir sagen “Du spinnst wohl Mama!?”. Sie hat recht. Es ist einfach nicht unsere Zeit. Ich schleppe sie den Snail Trail of Doom hoch zur Mensa, wo, wie jeden Tag, schon eine Schlange steht und auf die morgendliche Brotfütterung wartet.
Gemüseschnitzel und Jagdwurst
Per Zeitschaltuhr geht die Tür zur Mensa punkt 6 Uhr auf und die Traube an Muttis plus Kindern eilt schnellen Schrittes durch die Garderobe. Jacken werden inzwischen nicht mehr ausgezogen und aufgehangen. Viel zu riskant. Man könnte seinen Platz in der Schlange verlieren und nicht mehr als erster an der Wursttheke sein. Die Salami und Kinderwurst ist heiß begehrt. Die ist immer als erstes weg. Wer doch seine Jacke in der Garderobe lässt, bekommt nur noch die komische Jagdwurst. Die will ja keiner. Erst recht nicht das Kind. Als Veganer bin ich hier klar im Vorteil. Ich esse die Gurken, die links liegengelassen werden und trinke die Hafermilch, die versteckt hinter den ganzen H-Milch Packungen ein eher trostloses Dasein fristet. Ich bin quasi der Müllschlucker von all dem gesunden Kram. “Was sind denn Gemüseschnitzel? Was soll denn da drin sein?”. “Na die werden halt mit Kohlrabi gemacht. Hab ich mal gelesen.” Originalton von gestern beim Blick auf den Wochenplan fürs Mittagessen. Ich lächle mein bestes künstliches Lächeln, das ich bei all der Verrücktheit hier herausbringen kann und ernte ein “Gulasch! Da weißte was de hast.” Ich will zurück nach Berlin ❤
Apfel trifft auf Mensafenster
Ich knuspre an meinem Brötchen mit Gurke, schlürfe meinen Hafermilchkaffee und werde aus meinem kleinen Wachnickerchen mit einem “Dein Sohn ist gerade aus dem Fenster gesprungen!” geweckt. Ich drehe mich um und sehe eine Kinderschar vor einem offenen Fenster, in dessen Rahmen mein 5-Jähriger steht, mich verschmitzt anschaut und “Tschuldigung Mama!” sagt. Mir fällt mein Gurkenbrötchen aus der Hand. Alle starren mich an. Live Action Kino in der Reha-Mensa. Besser kann es an einem Montagmorgen um 6 Uhr nicht werden. Ich gehe hin, ziehe meinen Sohn wieder in den Raum und frage, warum er aus dem Fenster gesprungen sei. “Ich wollte meinen Apfel wiederholen.” Wie, warum und weshalb sein Apfel überhaupt durch das Fenster geflogen ist, will ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr wissen. Nach einer Standpauke inklusive Kinder- und Muttipublikum, gable ich meine Tochter auf, die schon wieder das Baby im Kinderwagen nervt, lass mein Gurkenbrötchen Gurkenbrötchen sein und gehe. Gurke auf Brötchen gibt’s ja wieder zum Abendbrot. Da kann ich mein Frühstück auch sausen lassen.
Back to “Bunter Plan” Business
Der restliche Tag ist wieder vollgespickt mit Terminen. Kinder in der Kitagruppe abgeben, zur Ergotherapeutin gehen, um nochmal über weitere Pläne zu reden, Physiotherapie Erstgespräch für meinen Sohn, Logopädin, Anruf von der Verwaltung zwecks Terminänderung. Danach ist es erst 11 Uhr und das heißt Mittagessen für mich. Ja, um 11 Uhr. Es gibt Nudeln mit Tomatensauce. Ich bin im Veganer-Himmel!
Nach der Mittagsruhe stehen weitere Termine an. Um 15 Uhr ist Schluss und die Eltern-Kind-Meute versammelt sich auf den Spielplätzen. Es kehrt so etwas wie Ruhe ein. Zumindest wenn man das Grundrauschen an Kindergeschrei, das Rattern der Räder von den Rollern und Laufrädern sowie das Knattern der Walkie-Talkies, die immer mindestens ein Kind irgendwo herhat, ignoriert. Ich schlürfe an meinem Kaffee und bin froh etwas zur Ruhe kommen zu können.
Das Salami-Jagdwurst-Dilemma
Pünktlich um 17 Uhr… Hatte ich erwähnt, dass wir in der frühen Essensgruppe sind? Ja? Gut. Also pünktlich um 17 Uhr selbes Spiel wie an den letzten Tagen. Tochter auf den Arm, den Snail Trail of Doom hoch und Platz in der Schlange vor der Mensa einnehmen. Die Tür geht auf, Muttis schleifen im Eiltempo Kind und Kegel zum Büffet, natürlich ohne der Garderobe auch nur ein Augenzwinkern zu schenken, nur um erster an der Wursttheke zu sein. Das Salami-Jagdwurst-Dilemma. Siehe oben. Meine Kinder entscheiden sich anstatt auf Salami-Pirsch zu gehen, lieber die gesamte Warteschlange im ADHS-Style zu entertainen. Rauf- und Runtergehopse inklusive Gerenne auf der Bank plus Tobsuchtsanfälle mit Geschrei und Geheule auf dem Boden – meine Kinder zeigen ihr volles Repertoire. Fenstersprünge sind jetzt gerade nicht dabei, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Siehe ebenfalls oben.
Kommentarlose Blicke
Ich werde angestarrt. Meine Kinder werden angestarrt. Und dann werde ich wieder angestarrt. Blicke sind fies. Blicke ohne Sprüche, egal wie doof sie sind, sind für mich unerträglich. Die kenne ich nur zu Genüge schon von Berliner Spielplätzen und vollen Straßenbahnen. Sie tun weh. Sie geben mir das Gefühl, anders, nicht passend, nicht zugehörig, komisch, seltsam zu sein. Und dabei dachte ich, dass ich gerade hier in der Kinder-Reha, nur eine unter vielen wäre. Dass die Eigenarten meiner Kinder nur einige unter vielen wären. Dass gerade diese Eltern Verständnis hätten. Dass wir quasi im selben Boot sitzen würden und ich ausnahmsweise mal nicht mit diesen Blicken angestarrt werde.
Chips, Fruit Loops und trockene Mensa-Brötchen
Mir wird alles zu viel. Ich packe meine Kinder, stopfe ein paar Brötchen in meinen Rucksack und verschwinde. Bloß raus, weg von den Blicken. Fünf Minuten später sitzen wir auf unserem Zimmer. Alle gemeinsam, ruhig, entspannt und glückselig. Wir haben unser Kühlschrankfach und die Snack-Schublade mit unserem Notvorrat geplündert. Fruchtzwerge, Salami (ganz ohne Warteschlangengerangel), Chips, trockene Fruit Loops und frisch geklaute Brötchen aus der Reha-Mensa sorgen für das erste, wirklich entspannte Familienessen der gesamten letzten Woche. Noch nie hat ein trockenes Brötchen ein Veganer-Herz wie mich glücklicher gemacht. Ich lächle meine Kinder an, meine Kinder grinsen dank ungesunder Abendbrotwahl breit zurück. “Jetzt rufen wir Papa an! Der ist schon ganz neugierig, wie der Apfel durch das Fenster geflogen kam.” Family ❤ Familie
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