Special Needs Child

Integration in der Kita – Theorie vs. Realität

In Berlin einen Kitaplatz zu finden, ist quasi genauso schwer, wie in Thalheim einen Coffee-to-Go mit Hafermilch. Es ist nahezu unmöglich. Und doch haben wir uns dazu entschieden, mitten im laufenden Kitajahr auf die Suche nach einem neuen Kitaplatz für unsere 4-Jährige mit Jansen-de Vries Syndrom zu gehen. Warum? Weil Integration in der Realität nicht immer so einfach ist, wie es vielleicht in der Theorie erscheinen mag.

Ein Glücksgriff… eigentlich

Unsere Tochter geht seit ihrem ersten Lebensjahr in die selbe Kita wie ihr Bruder. Eine kleine Kita mit nur 23 Kindern mitten in Berlin. Ein kleines, nettes Team von Erziehern und einer Haushaltshilfe, die jeden Tag frisches Essen zubereitet. Alles ist bunt gemischt, offen, kein Gruppenzwang, eine enge kleine Gemeinschaft, die viel Spaß miteinander hat. Dank der sehr überschaubaren Anzahl an Kindern, kennen sich die Eltern untereinander, die Erzieher plaudern beim Abgeben und Abholen über Erlebnisse im Kita Alltag, es werden Feste gefeiert, es ist angenehm familiär. Ein zufälliger Glücksgriff, der jetzt schon fast fünf Jahre zurückliegt.

Durch dick und dünn

Von Anfang an ahnten wir und die Kita, dass irgendetwas mit unserer Tochter nicht stimmt. An ihrem ersten Tag in der Kita, krabbelte sie noch nicht, sie sprach kein Wort und sie konnte noch nicht einmal eigenständig sitzen. Die Kita ging mit uns durch dick und dünn. Von dem ersten Verdacht, der Erklärung was ein SPZ ist über das Ergebnis des Gentests, des ersten festen Essens, das unsere Tochter überhaupt in die Hand nahm hin zu den ersten wackligen Schritten, den ersten Wörtern und wilden Kostümpartys. Wir haben viel gelacht, Freudentränen vergossen und Umarmungen geteilt.

Und trotzdem…

…ist nun der Punkt erreicht, an dem wir weiterziehen müssen.

Da ist so viel mehr

Lucy ist trotz ihres Gendefekts ein smartes, cleveres Mädchen. Sie ist zu so viel mehr in der Lage als viele auf den ersten Blick meinen. Sie saugt den durch Therapien, Einzelfallhilfe, Ergo-Babysitter und Ergo-BFF vermittelten Input mit einer wahnsinnigen Freude an allem im rasanten Tempo auf. Wenn wir als Eltern mal gerade keine Zeit für Versteck- und Rollenspiele haben, holt sie die Piktos (Metacom Symbolkarten) von ihren Best Friends den Einzelfallhelfern und Ergo Buddies und streckt sie uns mit Inbrunst entgegen. “Hier da! Die will ich sehen. Jetzt!” würde sie wahrscheinlich sagen, wenn sie sprechen könnte.

Input

Den will sie. Den braucht sie. Jetzt. Sie ist hochmotiviert zu lernen. In ihrer Art und Weise. Mit ihren Mitteln. Davon dann aber bitte auch viel. Jeden Tag. Mehrere Stunden.

Von A- nach B-Status

Und das sollte unter anderem auch die Kita abdecken. Lucy hat einen Integrationsstatus. Schon lange den A-Status, den erhöhten Förderbedarf. Seit einigen Monaten aber schon den höheren, den B-Status, den sogenannten wesentlich erhöhten Förderbedarf. Für Kinder mit B-Status bekommen Kitas extra Gelder. Und zwar ordentlich. Im Gegenzug stehen dem Kind mit Integrationsstatus zusätzliche Stunden mit einem Integrationserzieher zur Verfügung. Dieser ist “für den Integrationsprozess in der Gruppe, die gezielte Förderung des Kindes mit besonderem Förderbedarf und die Zusammenarbeit mit dessen Eltern zuständig.” [Quelle: KJA/SPZ Berlin]

Theorie vs. Realität

So weit , so schön und gut. Oder auch nicht. Denn hier prallt die Theorie auf die Realität. Auf dem Papier haben wir theoretisch für eine volle Integration und Förderung unsere Tochter innerhalb der Kita alles gemacht. In der Praxis sieht es aber leider ganz anders aus. Ja, sie kümmern sich ganz toll um unsere 4-Jährige. Und ja, sie achten darauf, dass sie sich nicht selber oder anderen wehtut, es hat irgendwie immer jemand ein Auge auf sie und sie macht auch fast bei allen Aktivitäten mit. Aber Integration? Förderung? Noch nie habe ich einen Förderplan gesehen. Was wird denn konkret gemacht, dass sie integriert und gefördert wird? Austausch mit den Therapeuten? Sogar Teilnahme an Therapiestunden mit Beobachtung des Kindes in der Therapie, um Ergebnisse in den Kita-Alltag zu übertragen steht auf der To-Do-Liste [Quelle: KJA/SPZ Berlin].

Es kommen viele ablenkende Aussagen. Personalmangel wegen Erkältungswelle, viele Eingewöhnungen, sie bleibt halt schlecht bei einer Sache, sie will immer zu den Vorschulkindern, sie hängt ständig bei den 1-Jährigen rum, der Donnerstag und Freitag ist halt doof wegen Renates Schule und Corona geht sowieso immer.

Wir sind es leid

Grundgebärden werden einfach nicht integriert. Piktos nicht genutzt. Das Angebot Lucys Ergo-BFF ein paar Stunden pro Woche in der Kita zu haben, um Tipps und Tricks weiterzugeben, wird mit der Erklärung abgelehnt, dass man ja schon über dem “Schlüssel” arbeite. Überhaupt dieser blöde Schlüssel. Der ist so die Dauerantwort auf alles, wenn es darum geht, vielleicht doch noch mehr Hilfe reinzuholen, um das mit der Integration und Förderung so smooth wie möglich hinzubekommen. Argh!

Lucy kann mehr. Lucy brauch mehr. Lucy hat den Anspruch auf mehr.

Es gibt Integrationskitas in Berlin. Nur auch die sind überlaufen. Die Wartelisten sind voll. Und dennoch versuchen wir es. Es sind nur noch eineinhalb Kita-Jahre. Aber die wollen wir nutzen. Wir wollen nicht nur einfach abwarten. Sie nur betreut wissen. Gut betreut aber ohne wirklichen Mehrwert. Zumindest nicht der Mehrwert, der ihr zusteht und den sie braucht. Gebärden müssen um sie herum sein, damit sie sie nachmacht. Piktogramme müssen greifbar sein, um sie einzusetzen. Es muss einen offen kommunizierten Plan darüber geben, wie sie gefördert, gefordert und vielleicht auch manchmal aus der Reserve gelockt wird. Lucy braucht eine Kita mit Erfahrung. In der sie nicht die erste und auch einzige mit Behinderungen ist. Sie soll nicht einfach nur dabei, sondern Teil des Ganzen sein. Und das heißt auch genauso gefördert zu werden wie alle anderen Kinder.

Bei uns sieht die Realität von Integration in der Kita leider nicht so aus, wie wir uns das in der Theorie vorgestellt hatten. Vielleicht nähert sich die Theorie der Realität in einer anderen Kita an. Wir suchen. Wir versuchen es. Wir geben nicht nach. Wir geben nicht auf ❤

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