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Roter Faden vs. kunterbunte Lucy Welt – Leben mit einem behinderten Kind

Manchmal frage ich mich wie das andere Eltern machen. Mit einem behinderten Kind. Einem Kind, das halt anders ist. Andere Bedürfnisse hat. Bedürfnisse hat, die nicht in all den Elternratgebern stehen, die man, ob gewollt oder nicht, pünktlich mit der Geburt des ersten Kindes plötzlich in den Regalen stehen hat. Bedürfnisse, die überhaupt in keinem Buch stehen.

Wie macht ihr das? Woher wisst ihr was richtig ist? Wisst ihr das überhaupt? Wollt ihr das wissen? Woran orientiert ihr euch? Gibt es irgendwo Orientierung?

Ratgeber adé

Als wir die Diagnose Jansen-de Vries Syndrom bekamen, habe ich alle Elternratgeber in den Müll geschmissen. Mit besonderer Freude den Bestseller “Oje, ich wachse”. Schon lange passte unsere Tochter mit ihren Eigenarten in keinen dieser Ratgeber. Laufen mit gut einem Jahr? Pah! Mit einem Jahr krabbelte sie noch nicht einmal.

Wie macht ihr das mit Arbeit? Arbeiten beide? Hat einer, haben beide Stunden reduziert? Vielleicht sogar ganz den eigenen Job hingeschmissen?

Fürsorge+

Mit Kindern ist die Zeit immer knapp. Mit einem behinderten Kind noch knapper. Zusätzlich zum normalen Paket “Kind”, kommen Therapien, Behördenkram, Arztgänge. Plus eine extra Portion spezieller Fürsorge. Je nachdem wie hoch die Einschränkungen sind, kann diese Fürsorge unterschiedlich aussehen. Bei uns heißt das zum Beispiel auch nach fünf Jahren immer noch Windeln wechseln, an- und ausziehen der Klamotten, Kinderwagen schieben, Gebärden lernen, anwenden, ständig den Mund nach Sachen absuchen, auf denen sie herumkaut, bei jedem Klettergerüst mitgehen, überhaupt niemals alleine lassen dürfen, alle Kleinteile im Haushalt außer Reich- und Sichtweite legen, Pictos im Haus platzieren, immer Wraps auf Vorrat haben, da das einzige “Brot” ist, das sie überhaupt anfasst ohne zu schreien und neue Gegenstände mit Bedacht anschaffen, da vieles zu Angstzuständen führt.

Wie macht ihr das?

Kein Ratgeber, keine Zeitschrift, keine Fernsehsendung, kein Kinderarzt, kein Arbeitgeber, keine Oma, kein Opa, keine Freundin hat eine Antwort. Keine Orientierung an irgendwas. Kein grundlegender Fahrplan darüber, was in ein, zwei, drei oder zehn Jahren passieren wird. Zumindest grob.

Kunterbunt statt roter Faden

Unser Sohn durchläuft gefühlt jede Phase wie sie im Buche steht. Mit stärken, mit Schwächen. Grundsätzlich aber mit klar erkennbarem roten Pfaden, zu dem es garantiert nicht nur ein Buch sondern gleich mehrere gibt.
Bei unserer Tochter gibt es nichts. Leere. Nur medizinische, pädagogische, therapeutische Lehrbücher. Aber Elternratgeber? Nichts. Es gibt einfach keinen roten Pfaden. Der existiert nicht. Den wird es auch nie geben. Zu speziell, zu feingliedrig, zu individuell, zu einzigartig. Jedes Kind mit Behinderung ist anders. Hat ganz besondere Eigenschaften, Besonderheiten, die sie uns, den langweiligen Bilderbuchmenschen, auch gerade aufgrund ihrer Eigenarten meist gar nicht mitteilen können. Manchmal einfach auch gar nicht wollen. Selbst schuld, wenn man lieber im grauen Einheitsbrei mit rotem Pfaden herumlebt und nicht in der bunten Welt unserer Tochter.

Wie sollen wir es machen?

Darauf wird es niemals eine Antwort geben. Ein kleiner Leitfaden, eine klitzekleine Gebrauchsanleitung, auch gerne in einer Sprache, die wir nicht verstehen, irgendwas, irgendeine Orientierung wäre manchmal schön. Aber die wird es nicht geben. Flexibilität, Spontanität, Kreativität, Geduld, Empathie und Ausdauer. Das ist der einzige Leitfaden den wir haben. Nur damit kommen wir weiter. Nur damit können wir arbeiten.

So machen wir das.

Es ist das was wir immer wieder versuchen, Menschen um uns herum zu erklären. Es sind nicht nur Therapien, Behörden, Ärzte, die unseren Alltag anders, aufwendiger, voller machen. Es ist oft die Tatsache, dass wir einfach nicht wissen, wie es in zwei, drei oder zehn Jahren aussehen wird. Es gibt kein „Ach in der Phase ist sie jetzt!“ Es gibt nur „Oh okay sie findet Kleber genauso lecker wie Fingerfarbe. Ich schau kurz, ab welcher Menge es giftig ist.“ Unsere Tochter definiert ihre eigenen Phasen. Nicht nur deren Inhalt sondern auch deren Länge. Ohne uns einzuweihen, auf welchen Spaß wir da uns nun einlassen.

Das nicht wissen, wann zumindest grob gewisse Entwicklungen einfach so stattfinden ohne auch nur irgendwas dafür tun zu müssen, macht mich oft traurig. Wird es diese Entwicklungsschritte überhaupt geben? Und dann kommt sie um die Ecke gepest. Pinkes Ballerinakleid, Tiger Leggings, Winterjacke drüber, Spiderman Maske auf dem Kopf und Gummistiefel an. „Hallo!“ Ich muss lachen. Wie immer. Ihre Verkleidungsphase ist mit Abstand meine Lieblingsphase. Umso schöner, dass dies auch die bisher längste ist. Hoffentlich bleibt sie. Denn da wissen wir immer was wir haben. Viel Buntes, viel lachen und viel Spaß ?

One Comment

  • Natalie Gill

    Thank you for your honest writing! I am the medical foster parent of a child with Jansen Devries. Your experiences give me insight and understanding for this precious child’s future. Please continue to share as you navigate life and advocate for your Lucy.

    Natalie

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