Kinder-Reha Tag 27 – ADHS, Autismus und noch mehr ADHS
Schokolade ist manchmal die Lösung. Viel Schokolade ist manchmal die sogar noch bessere Lösung. Heute ist so ein Tag. Unsere letzte Woche in der Kinder-Rehaklinik in Thalheim ist angebrochen. Und damit auch der Feedbackgespräch-Marathon. Logopäde, Ergotherapeut, Physiotherapeut, noch mal Logopäde, Psychologe und Kinderarzt. Ich habe eine bunte Mischung von allem in meinem Reha-Plan. Direkt der erste Termin beim Kinderarzt bringt mich in die bittere Realität zurück. Raus aus dem Reha-Leben der letzten vier Wochen, rein in die Welt, die uns wieder in Berlin erwartet. Dinge, die wir schon länger vermuten, die aber irgendwie immer wieder auf “ja, wenn sie alt genug sind” verschoben werden, kommen beim Reha-Kinderarzt unverblümt, in kurzen, knappen Sätzen auf den Tisch. ADHS, Autismus und noch einmal ADHS. Als besonders süßes Sahnehäubchen obenauf zu Gendefekt, Jansen-de Vries Syndrom, globale Entwicklungsverzögerung und Sprachentwicklungsstörung. Abgerundet von der kommentarlosen Übergabe von zwei Mappen, die den Antrag zur Kinder-Reha für nächstes Jahr beinhalten. Fuck you!
Ich bin gerade alles. Wütend, traurig, erleichtert, zweifelnd, niedergeschlagen.
Wütend
Wütend darüber, dass ein solches Gespräch pro Kind nur 10 Minuten laut Reha-Plan beansprucht. So wenig Zeit, dass noch nicht einmal über die Mappen und den erneuten Antrag darin geredet wird. Viele Eltern, die hier sind, wissen grundsätzlich um welche Diagnosen es geht. Zumindest wissen sie, welche Fragen im Raum stehen, denen hier im Detail mit der Bemühung um eine erste oder weitere Klärung eine Antwort gegeben wird. Auch wir wussten vor unserem Aufenthalt in der Kinder-Reha in Thalheim, dass bei beiden Kindern ADHS sehr wahrscheinlich ein Thema ist. Auch Autismus bei unserer 4-Jährigen mit Jansen-de Vries Syndrom ist etwas, das zumindest wir Eltern schon länger vermuten. Dass aber solche Themen in einem zehnminütigem Arztgespräch teilweise nur in einem Nebensatz abgefrühstückt werden, macht mich wütend. Erneut wütend, da viele, nicht alle Ärzte, solche Vermutungen und Diagnosen mit extrem wenig beziehungsweise gar keiner Form von Empathie in den Raum werfen. Es wird von einem Blatt abgelesen, runtergerattert, als ginge es einfach nur um eine weitere x-beliebige Sache, die halt der Akte Flynn und der Akte Lucy hinzugefügt wird. “Sie kennen das ja schon. Hatten sie ja eh vermutet. Jetzt steht’s halt drauf. Nächster Punkt wäre…”
Ich bin es leid!
Auch wenn beide meine Kinder schon eine dickere Krankenakte haben als mein Mann und ich zusammen, ist ADHS und Autismus nicht einfach nur ein weiterer Bullet Point auf ihrer langen Liste an Verhaltensauffälligkeiten. Jede weitere Diagnose tut weh. Je mehr davon auf einen einprasseln, es wird nicht umso einfacher für uns. Bei mir passiert eher das Gegenteil. Mit jedem weiteren Punkt, zieht es mich noch weiter runter, macht es mich noch trauriger, grüble ich noch mehr darüber nach, wie wohl unsere nächsten Jahre aussehen werden, welche Konsequenzen das für uns als Eltern, als einzelne Person hat und was das vor allem für unser Kind bedeutet. Auch wenn wir es ahnten, ist es mit zehn Minuten nicht einfach getan.
“Haben sie noch Fragen?” Tausend! Aber mein bunter Reha Plan sagt mir, dass ich schon jetzt zu spät zum Folgetermin komme und die nächste Mama steht auch schon draußen und wartet auf einen weiteren Bullet Point in der Akte ihres Kindes.
Traurig
Meist schießen mir als erste Reaktion auf solche Gespräche, solche Sätze Tränen in die Augen. Häufig hängt das mit Wut, mit Überforderung, Stress zusammen. Manchmal ist es aber auch ganz einfach Traurigkeit. Darüber dass wieder etwas hinzukommt. Noch ein weiteres Merkmal der langen Liste hinzugefügt wird. Hat das eigentlich irgendwann ein Ende? Finden die immer wieder was Neues, Hippes, Trendiges, das man da draufsetzen kann? Traurig auch darüber, dass das Kind in diesen kurzen Momenten das Kind mit dem Syndrom, dem Gendefekt, dem Autismus, dem ADHS ist und nicht Lucy, das unendlich lustige, liebenswerte Mädchen, das sich gerne verkleidet, tanzt und den ganzen Tag nur Parmesan essen könnte. Sie ist dann für diesen Moment des Gesprächs der Patient, dessen Akte um noch ein weiteres Blatt erweitert wird. “Aha, Autismus. Oh ja und ADHS. Okay, notiert. Wie war das mit Epilepsie? Das müssen wir auch noch vom Neurologen abklären lassen. Setzen sie das noch auf ihre To-Do-Liste, ja? Das dürfen wir nicht vergessen.” Ich will das manchmal einfach alles vergessen und nur meine Tochter halten, mit ihr lachen und die Käsetheke nach allem Parmesan absuchen, den es in dieser Welt gibt.
Erleichtert
Neben Wut und Traurigkeit, reiht sich aber fast immer auch Erleichterung bei diesen Arztgesprächen ein. Erleichtert darüber, dass die Dinge, die wir schon lange vermuten, endlich auf einem mit Arztstempel und Unterschrift versehenen Bericht festgehalten sind. Ganz offiziell liegen wir mit unserem elterlichen Bauchgefühl also nicht vollends daneben. Mit diesen Berichten öffnen sich Türen, die uns vorher meist verschlossen waren oder die nach ersten Anfragen wieder zugemacht wurden. Mit dem Reha-Bericht und der darin enthaltenen Beobachtung, dass Autismus und ADHS vermutlich vorliegen, sind wir endlich in der Lage auch unabhängig von bisherigen Ärzten und Therapeuten Tests durchführen zu lassen. Also endlich konkrete Schritte zu unternehmen, den Vermutungen auf den Grund zu gehen und sie nicht einfach unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. Konkretisieren und nicht weiter nur Mutmaßungen anstellen. Lieber wollen wir genau wissen, was los ist, als dass wir jahrelang im Dunkeln tappen.
Zweifelnd
Nach der Erleichterung kommen sofort die Selbstzweifel. Wenn jetzt noch ADHS bei beiden Kindern und Autismus bei unserer Tochter hinzukommen, kann das Familienleben noch so wie bisher stattfinden? Wird es noch mehr Therapien geben? Noch mehr bürokratischer Aufwand auf uns zukommen? Können wir, mein Mann und ich, unseren Jobs überhaupt noch gerecht werden? Sollten wir Prioritäten verschieben, umändern, neu justieren? Ich gerate oft ins Zweifeln, wenn neue Diagnosen hinzukommen. Kann ich noch mit gutem Gewissen meine 30 Stunden pro Woche arbeiten? Reicht ein “freier” Tag pro Woche, um Arzttermine, Behördengänge, Formularwirrwarr, Anträge und Telefonate mit Krankenkasse, Pflegedienst, Ämtern sowie zumindest einige Therapietermine wahrzunehmen? Wo bleibt Zeit für mich? Also doch wieder Arbeitsstunden reduzieren und meinen lang erhofften Senior im Job wieder auf die Wartebank setzen? Auch hier habe ich wie bei allen anderen vorherigen Diagnosen keine Antwort. Einfach mal weitermachen lautet wie immer meine Devise. Mein Therapeut wird sich freuen.
Niedergeschlagen
Bin ich einmal mit der Wut, Traurigkeit, Erleichterung und den Zweifeln durch, mündet die Gefühlsachterbahn in Niedergeschlagenheit. Ich bin erschöpft. Ich bin müde. Ich bin ausgebrannt. Die letzten vier Jahre haben uns viel abverlangt. Von einer Einjährigen, die nicht krabbelt bis zu einer fast 5-Jährigen mit unendlich vielen Baustellen, von denen einige nun Namen wie Jansen-de Vries Syndrom, Autismus und ADHS haben. Es war ein holpriger Weg. Ein Weg gepflastert mit unzähligen Arztbesuchen, Therapien, Diagnosen und nun auch einem Rehaklinik Aufenthalt, der garantiert nicht unser letzter bleiben wird. Es macht müde. Es macht mürbe. Es wirft alles durcheinander, was man sich während der Schwangerschaft ausgemalt hat. Es ist zum Kotzen.
❤
Und dann kommt der Moment, wo ich meine Kinder von ihrer Therapiegruppe abhole. Mir schießen mal wieder Tränen in die Augen. Nicht aus Wut, nicht aus Traurigkeit, nicht aufgrund von Zweifeln. Ich schaue meine Kinder an und sehe nur, wie perfekt sie sind. Für mich absolut perfekt. Nie würde ich andere Kinder haben wollen. Nie würde ich etwas an ihnen ändern wollen. Nie würde an ihnen zweifeln, nie nicht an sie glauben und nie den wundervollen Menschen missen wollen, der sie sind. Egal was alles an Bullet Points noch hinzukommen mag, egal welch blöde Arztgespräche wir noch führen müssen und egal wie viele Rehas wir noch gemeinsam durchstehen werden – für mich seid ihr einzigartig und perfekt so wie ihr seid.