Lucy und das Jansen-de Vries Syndrom
“INTELLECTUAL DEVELOPMENTAL DISORDER WITH GASTROINTESTINAL DIFFICULTIES AND HIGH PAIN THRESHOLD” (Omim Datenbankeintrag). Entwicklungsverzögerungen in diversen Bereichen, insbesondere Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Sprache, Verhaltensauffälligkeiten und unendlich viele andere kleine Dinge, die unsere Tochter zu einer einzigartigen Person machen. Die Diagnose Jansen-de Vries Syndrom bekamen wir im Spätsommer 2019. Seitdem versuchen wir Lucys Welt jeden Tag ein bisschen besser zu verstehen.
Sprache ja, aber wer weiß wann
Mit 3,5 Jahren ist das wohl auffälligste Merkmal unserer Tochter, die nach wie vor nicht existierende Sprache. Mit etwas Phantasie hört man inzwischen ein “Mama” und “Papa” heraus. Grundsätzlich spricht Lucy aber nach wie vor kein Wort. Sie lautiert. Stark, sehr laut und mit ausgeprägter Mimik und wilden Gesten. Sie hat ihre eigene Form der Kommunikation gefunden. Es funktioniert und auch wenn es manchmal etwas länger dauert, sie kann sich verständigen. Auf ihre Art und Weise. Klar, der Kühlschrank ist immer noch ein Problem. Da hilft selbst wildes Herumgefuchtel nicht viel. Es sind halt zu viele Dinge im Kühlschrank. Da kann das “Meinst du das oder das”-Spiel schonmal etwas länger dauern.
Laut Therapeuten, Ärzten und JdVS-Support-Gruppe, wird Lucy auch mit Jansen-de Vries Syndrom irgendwann sprechen lernen. Wann das allerdings der Fall sein wird, weiß niemand so genau. Manche Kinder fingen mit etwa 3 Jahren an, manche erst ein paar Jahre später.
Unsere Tochter ist mit allem langsam. Hat sie den Dreh einmal raus, gibt’s allerdings kein Halten mehr. Mit 14 Monaten fing Lucy an zu Krabbeln, mit 2,5 Jahren lernte sie Laufen. Seitdem rennt sie über Stock und Stein, kein Klettergerüst wird ausgelasssen und auf dem Tretroller ist sie ein wahrer Virtuose. Während ihr Bruder gefühlt einfach nur einen Schalter nach dem anderen umlegte, um Laufen und Klettern zu lernen, sind all diese Entwicklungsschritte für Lucy hart erkämpfte Meilensteine.
Fröhlich, glucksend, kichernd durch den ganzen Tag
Na ja fast. Aber auf jeden Fall die meiste Zeit des Tages, ist Lucys Welt bunt, lustig und urkomisch! Es wird viel gekichert, gegrinst und aus tiefsten Herzen gelacht. Lucys Fröhlichkeit steckt an. Kinder lieben sie, Eltern finden sie zuckersüß und wir nicken mit einem “Ihr habt keine Ahnung”-Grinsen. Denn obwohl Lucy die meiste Zeit ein rundum fröhliches und lustiges Kind ist, kann sich ihre Laune innerhalb von einer Millisekunde ins Gegenteil wenden. Mit all dem Drama einer typisch Dreijährigen gepaart mit extrem hohen Kreischtönen, lässt sie alle wissen, dass ihr wirklich niemand mit Keksen kommen darf! Denn ja, Lucy fast bis heute nichts an, was auch nur annähernd irgendwie in eine Bäckerei gehört. Da kann noch so viel Zucker oder Schokolade drin sein, für unsere Tochter ist Bäckerkrams Tabu. Warum? Das weiß keiner außer Lucy. Und da Sprechen noch nicht so ihre Stärke ist, können wir nur mutmaßen. Zu knusprig, zu hart, zu trocken. Egal was der Grund sein mag, mit einem Wrap, einer Banane oder einem Fruchtzwerg kichert sie wieder munter drauflos.
Von allem ein bisschen
Die Liste der Merkmale des Jansen-de Vries Syndroms ist lang. Neben Entwicklungsverzögerungen in sämtlichen Bereichen, tauchen auch Dinge wie geringers Schmerzempfinden, Ess- und Verdauungsstörungen, Autismus, ADHS, Muskelschwäche und geringe Körpergröße sowie kleine Füße und Hände auf.
Mit 3,5 Jahren kämpfen wir vor allem mit der nicht vorhandenen Sprache. Alle anderen Dinge empfinden wir nicht als allzu große Beeinträchtigung. Lucy ist anders. Keine Frage! Aber all ihre kleinen Ticks führen immer wieder nur dazu, dass sie der Star in der Kita, auf der Familienfeier und im Innenhof unseres Wohnhauses ist. Sie tanzt und singt munter drauflos, sie zieht Grimassen wie kein anderer, sie gluckst ständig vor sich hin, freut sich wie Bolle über eine Bonbonverpackung, während sie den Inhalt auf den Boden schmeißt. Verstecken ist ihr Element, Sand ihre Schokolade und ihr Kleidungssstil macht sie zur Top Fashionista in ganz Friedrichshain.
Manchmal glauben wir, dass wir mit einem blauen Auge davongekommen sind. Lucy scheint ein normales Schmerzempfinden zu haben, sie ist enorm gewachsen und inzwischen wieder normalgroß für ihr Alter. Sie hat keine Sehschwäche, wie viele andere Kinder mit Jansen-de Vries Syndrom. Sie läuft, klettert, rennt, tanzt und springt – manchmal noch wacklig, aber sie macht es. Ihre Konzentration und Feinmotorik werden dank Ergotherapie von Tag zu Tag besser, sie malt Kreise und sie isst und trinkt selbständig. Ja, sie hat immer noch Mini-Füße (Schuhgröße 24) und Mini-Hände (sie trägt immer noch Babyfäustlinge), aber sie entwickelt sich prächtig! Alles in ihrem Tempo und auf ihre Art und Weise.
Kleine Schritte
Man muss alles in einer anderen Relation sehen. Während das Zusammenstecken von LEGO Teilen für unseren Sohn ohne große Erklärungen und Übungen einfach eines Tages klappte, feiern wir jeden Tag, an dem Lucy nicht eben diese LEGO Teile massenweise im Mund hat. Es sind die kleinen Dinge, die wir feiern. Unser Blick auf Entwicklungszeiträume hat sich vollkommen geändert. Ratgeber wurden alle aus dem Haus verbannt, da sie nur frustrieren und nichts mehr mit unserer Realität zu tun haben. U-Untersuchungen beim Kinderarzt ähneln eher einem Kaffeeklatsch, als der Überprufung von Lucys Entwicklungsstand. Nichts von dem was in diesen blöden Listen steht, trifft auf Lucy an diesem einem Stichtag zu. Wir nehmen unsere Quartalsüberweisung zum SPZ mit und freuen uns gemeinsam mit der Kinderärztin über die Sachen, die Lucy nun kann.
Die Diagnose Jansen-de Vries Syndrom ist hart, unfair, gemein und zum Kotzen. Aber für nichts in der Welt würden wir Lucy jemals wieder hergeben. Wir wissen nicht wie ihre oder gar unsere Zukunft als Eltern aussehen wird. Wird sie jemals selbständig sein können? Wird sie jemals ohne uns sein können? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass ihre Welt garantiert die buntere ist. Und vielleicht, wie der Papa immer zu sagen pflegt, ist sie doch ein X-Men und wird uns irgendwann ihre Superkräfte zeigen.