Allesandersplatz
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Allesandersplatz – Leben mit einem behinderten Kind

Ich laufe gerne die letzten Stationen der U-Bahn zu Fuß nach Hause. Es erinnert mich an mein erstes Jahr in Berlin, in dem ich diese riesengroße Stadt versucht habe durch diverse Streifzüge zu erkunden und zu verstehen. Ich verliebte mich sofort in die Andersartigkeit von Berlin. In die Diversität, die Schrulligkeit und Offenheit. Mein Weg führt mich vorbei an alten russischen Prachtbauten, an großen Alleen und Touristenattraktionen. Er führt mich aber auch jedes Mal vorbei am Haus der Statistik. Ein alter, halb verfallener Gebäudekomplex aus DDR Zeiten auf dessen Dach ein Schriftzug prangert, der mein, unser Leben nicht besser beschreiben könnte: Allesandersplatz! Ein Leben mit behindertem Kind ist anders. Alles ist anders!

Der Anruf

Ein Telefonat bringt mich mal wieder zum Grübeln. Ein Telefonat mit einer Mama, die ebenfalls ein Kind mit Jansen-de Vries Syndrom hat. “Wie kommst du damit klar, dass du ein behindertes Kind hast? Macht deine auch immer so komische Geräusche? Fällt sie regelmäßig über ihre eigenen Füße? Spricht sie? Falls ja, wie viele Wörter? Hat deine auch so seltsame Essgewohnheiten? Wie oft übergibt sie sich? Trägt sie noch Windeln? Was machst du bei Wutausbrüchen, Schreianfällen und Aggression? Arbeitest du noch? Wie kommst du überhaupt mit all dem klar?”

Die Fragen

Es prasseln unendlich viele Fragen auf mich ein. Und jede einzelne hat ihre Berechtigung. Es sind Fragen, die dir nur Menschen beantworten können, die in einer ähnlichen, wenn nicht sogar gleichen Situation stecken wie du. Vor meiner Tochter, habe ich mir nie diese Fragen gestellt. Ich dachte nie, dass sie irgendwann einmal relevant sein würden. Dass sie sie überhaupt einer Antwort bedürfen. Seit der Diagnose Jansen-de Vries Syndrom, seit wir langsam ahnen, was es heißt ein behindertes Kind zu haben, sind diese Fragen unser täglich Brot. Sie schwirren uns in den unterschiedlichsten Situationen im Kopf herum. Sie tauchen abends auf dem Sofa auf, wenn endlich Ruhe eingekehrt ist und sie ploppen permanent bei der Bewältigung des allgemeinen Alltags auf. Unsere Familie, unser Alltag, unser Leben ist halt ein Allesandersplatz.

“Wie kommst du damit klar, ein behinderts Kind zu haben?”

Gut! Und das ist tatsächlich meine ehrliche Antwort. Anfangs war es mir nicht bewusst, dass ich wirklich ein behindertes Kind habe. Ich dachte, es wäre halt eine kleine Beeinträchtigung dieses Jansen-de Vries Syndrom. Ein kleines Extra, das hier und da kleine Stolpersteine in den Weg wirft, aber im Großen und Ganzen halt irgendwie mitläuft. Doof aber handhabbar. Dass es aber unseren Alltag so beeinflussen würde, wie es das jetzt drei Jahre nach der Diagnose tut, war mir nicht klar. Erst jetzt sage ich offen, dass ich ein behindertes Kind habe. Denn im Kern behindert unsere Tochter Vieles, ein normales Leben führen zu können. Mit 5 Jahren spricht sie nur einzelne, sehr unverständliche Worte. In ihrer Kommunikation ist sie daher stark behindert. Sie benötigt alternative Kommunikationswege, um ihre Bedürfnisse mitteilen zu können. Sie ist stark auf ihre engen Bezugspersonen angewiesen, ihre Art der Kommunikation zu verstehen. Das ist eine klare Behinderung für sie. Eine von vielen. Aber vor allem die, die viele andere Verhaltensweisen stark beeinflusst.

“Danke, gut dank Glücksbärchi Vibe!”

Wir kommen damit klar. Wir haben uns mit alternativen Kommunikationswegen wie Gebärden, Piktogrammen, ihrer Mimik, Gestik und den einzelnen Wörtern eine gute Basis geschaffen, zumindest die wichtigsten Sachen gut zu verstehen.

Ich komme auch gut damit klar, dass unsere Tochter anders ist. Sie ist laut, sie ist direkt, sie schreit, sie wirft sich in ihrem Kinderwagen hin und her – sie fällt immer auf. Ja, wir werden viel angeglotzt, angegafft, aber am Ende des Tages ist Lucy diejenige, die den Spaß ihres Lebens hat und zehnmal mehr über Dinge lacht, als jeder noch so dröge Berliner. Anstatt zu gaffen und zu glotzen, sollten sich andere eine Scheibe Fröhlichkeit von Lucy abschneiden und einfach mitlachen. Das zumindest ist mein Motto seit Lucy in meinem Leben ist. Einfach mehr “Fuck it!” und weniger “Was wohl die anderen von mir denken”. Mehr Regina Regenbogen und Glücksbärchi Vibe als Grummel Griesgram und Meister Herzlos.

Das Kleingedruckte

Ja, es gibt Tage an denen ich heule. An denen mir alles zu viel wird. An denen mir dieser Allesandersplatz mächtig gegen den Zeiger geht. Tage an denen ich wünschte, ein “normales” Kind zu haben. Aber dann kommt Lucy bei 30 Grad Sonnenschein im Mary Poppins Kostüm mit Wollmütze auf dem Kopf, Aufklebern im Gesicht und der Tonie Box, die auf höchster Lautstärke “Fröhliche Weihnacht” durch den Hof schallt auf die Terrasse gestürmt, nur um mir das Metacom Symbol für Milchreis in die Hand zu drücken.

Ich liebe sie! Ich liebe sie genauso wie sie ist. Kein anderer Mensch lehrt mir jeden Tag aufs Neue, wie egal es ist, was andere sagen. Hauptsache du bist glücklich mit dir und deinem Leben. Und Lucy ist glücklich. Auch weil wir es zulassen, dass sie so sein kann wie sie will. Für uns muss sie in keine Norm passen. Wir haben keine kruden Erwartungen an sie, da wir auch gar nicht wissen, was wir erwarten können. Die Diagnose Jansen-de Vries Syndrom ist für uns, wie für viele andere Eltern, wie die Mama, die ich heute am Telefon hatte, nach wie vor eine Black Box. Keiner weiß wirklich, was es alles heißt, das Jansen-de Vries Syndrom zu haben. Ja, es gibt Eckdaten, an denen man such entlanghangeln kann. Am Ende des Tages ist es aber ein Weg, von dem wir einfach nicht wissen, wo er hingehen wird.

Ein Tag nach dem anderen

Vielleicht ist es auch deshalb so okay für mich ein behindertes Kind zu haben. Ich weiß nicht, was mich in einem Jahr, in fünf oder zehn Jahren erwartet. Das kann mir keiner sagen. Also nehme ich die Tage so wie sie kommen. Einer nach dem anderen. Lucy wird uns zeigen, wohin die Reise geht und ja, diese Reise wird so lange wie wir leben über den Allesandersplatz gehen. Gemeinsam mit Glücksbärchi Vibes und Regina Regenbogen Power.

2 Comments

  • Steffi

    Hallo! Auch in unser Leben hat dieses beschissene Syndrom Einzug gehalten…ich kann die Namen nicht mehr ausstehen…sie hätten wenigstens einen positive, deskriptive Bezeichnung wählen können…Funny Baby Syndrom zum Beispiel…Wir sind nicht in Deutschland, aber auch deutschsprachig, meines Wissens die ersten in unserem kleinen Land. Ich schreibe, weil ich wieder mal im Talboden bin…

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