“Ein bisschen behindert.”
Dieser Satz. Er schwirrt in meinem Kopf hin und her. Immer wieder. Hin und her. “Ein bisschen behindert.” Hin und her. Eine Woche ist es her. Unser Spielplatz im Hof. Meine Tochter sitzt auf der großen runden Schaukel, quietscht fröhlich vor sich hin, flattert mit den Armen wild um sich herum, verdreht vor Freude hier und da die Augen und hat – wie jeden Tag – den Spaß ihres Lebens. “Ihre Tochter ist ein bisschen behindert oder?” höre ich von der Omi neben mir, die ihr Enkelkind zum Spielplatz begleitet. Ich nicke und bekomme nur ein leises “Hmm, ja ein bisschen” raus. Wir stehen ein wenig da, beobachten unsere Kinder, sagen nichts weiter. Kaffee, ich brauche einen Kaffee. Ich nutze die doofe Ausrede, gehe rein, atme ein paar mal tief durch, wische die erste und zweite Träne weg und gehe wieder raus. Omi und Kind sind gegangen, meine Tochter quietscht noch immer fröhlich vor sich hin.
Genervt! Aber warum?
Warum nervt mich das eigentlich so? Warum ploppt diese Situation auch nach einer Woche immer noch in meinem Kopf auf? Omi hat recht, meine Tochter ist “ein bisschen behindert”. Denn per Definition bedeutet behindert folgendes:
Was ist schon “normal”
Ja, meine Tochter ist aufgrund eines Gendefekts, dem Jansen-de Vries Syndrom, geistig und auch ein wenig körperlich beeinträchtigt. Sie macht Dinge, die viele als “komisch”, “unnormal”, “irgendwie anders und seltsam” bezeichnen. Halt nicht wie eine durchschnittliche 4-Jährige. Anders halt. Nicht der “Norm”, nicht dem Durchschnitt entsprechend. Aber behindert? Hindert sie das Syndrom tatsächlich daran ein fröhliches, erfülltes, glückliches Leben zu haben?
Da sie kaum spricht, kann sie es uns nicht selbst sagen, aber so wie sie jeden Morgen dem Tag entgegenstrahlt, die wildesten Tänze mitsamt Tonie Box vor dem Spiegel aufführt, jede noch so unbekannte Person mit einem überschwänglichen “Alloh!” begrüßt, nur um dann wieder mit noch mehr Enthusiasmus und einer extra Portion guter Laune “Bye!” zu sagen, ja da sagt mir mein Bauch, das ihr Leben weitaus bunter und lustiger ist, als das von der Omi auf dem Spielplatz. Ja, per Definition ein bisschen behindert aber zigtausend mal lebensbejahender als all die Menschen, die bei Lucys “Alloh” in der Tram genervt wegschauen, in ihrem Handy versinken und den Platz wechseln, weil Lucy sich dann auch noch erdreistet ihnen ein zuckersüßes “Bye” mitsamt fettem Grinsen entgegenzuknallen.
Eine extra Portion gute Laune
Ich bin es satt, diese bescheuerte Frage überhaupt beantworten zu müssen. Sie überhaupt gestellt zu bekommen. Was ändert es, wenn Omi nun weiß, dass das Mädchen dort auf der Schaukel ein bisschen behindert ist? Ich bin nicht traurig über die Diagnose Jansen-de Vries Syndrom. Ich bin traurig, dass kaum jemand den Schritt in Lucys Welt wagt. Sich nicht auf die Quieker und Gluckser einlässt, versucht mitzulachen, mit laut zu sein, nicht versucht die “Norm” über Bord zu werfen und tatsächlich sieht wie fantastisch lustig es mit Lucy sein kann. Wie sie es schafft mit ihrem ansteckenden Überschuss an Positivität und Glückseligkeit die Welt in extra bunten Farben zu sehen. Wie schade, dass Omi davon heute nichts mit nach Hause nimmt.